Gedanken zum Tode meines Vaters


Am 31.10.2006 hat sich mein Vater in Erfurt öffentlich verbrannt. Er setzte damit ein Zeichen, ganz sicher. Aber was ich mich danach sehr lange fragte, ist: Wofür setzte er ein Zeichen?

Soweit ich weiß, hat niemand außer seiner Frau (die ich unmöglich "Mutter" nennen kann und die ganz sicher nicht möchte, daß die wahren Motive ans Licht kommen), den Abschiedsbrief je gesehen. Auch in den Ermittlungsakten der Polizei ist der Abschiedsbrief nicht enthalten, so daß klar ist, daß seine Frau ihn allen vorenthalten hat. Niemand kann also sagen, ob er sich wirklich aus Angst vor dem Islam auf diese schreckliche Art umgebracht hat, so wie seine Frau das behauptete. Es mehrten sich in der Zeit nach seinem Tod aber einige Zweifel an der Darstellung, während er von bestimmten Kreisen zu einem Märtyrer hochstilisiert wurde.
Ich vermute jedenfalls ein ganz anderes Motiv.

Natürlich ist mir klar, daß alle, die ihn in den letzten Jahren zum Heiligen erkoren haben, aufschreien werden wenn sie das hier lesen. Aber niemand sollte die Augen davor verschließen, daß ich in einem Klima der Doppelmoral, der ins Perverse verkehrten Sittlichkeit und des methodischen Sadismus aufgewachsen bin.

Genau wie alle anderen Menschen, kann auch ich nur spekulieren, warum mein Vater das getan hat. Aber eines ist klar: im Gegensatz zur offiziellen Darstellung seiner ehemaligen Vorgesetzten in der evangelischen Kirche war mein Vater kein Mann ohne Probleme. Im Gegenteil, ich bin davon überzeugt, daß auch er durch sadistischen Mißbrauch und Mißhandlung als Kind schon seine Persönlichkeit aufspalten mußte, um zu überleben. Denn ich kannte seine Mutter, die meiner in so vielem glich (nicht umsonst haben diese beiden Frauen sich gegenseitig abgrundtief gehasst).
Es gibt dafür keine objektiven Beweise. Aber jeder, der ihn kannte, kannte seine plötzlichen "Stimmungswechsel", seine plötzlichen Meinungsänderungen, die Brüche in seinem Verhalten. Alles Dinge, die auf eine schwere Traumafolgestörung hinweisen.
Niemand hat sich je gefragt, warum er so war. Die Fassade war so gut, daß niemand sich vorstellen konnte, daß in dieser Familie etwas nicht in Ordnung gewesen sein könnte. Und - er war doch Pfarrer. Und Pfarrer sind doch qua Berufswahl fehlerfrei.

Nun, eines ist klar: Ich selbst bin schon als Säugling mißbraucht und gefoltert worden, so lange, bis ich willenlos alles tat, was von mir verlangt wurde.
Ich hatte vieles, aber ganz sicher keine glückliche Kindheit. In einer glücklichen - oder zumindest nicht schwer traumatisierenden - Kindheit muß ein Mädchen nicht lernen, seine Fähigkeit zur Dissoziation zu nutzen. Das tut es nur, wenn es anders nicht überleben kann. Und ich konnte perfekt dissoziieren, brauchte jahrelange Traumatherapie, um das zu überwinden.
Ich darf nicht sagen, wer mich mißbraucht hat, wer mich gefoltert hat, wer versucht hat, meine Persönlichkeit zu zerstören. Das darf ich nicht, weil in Deutschland alle Gesetze nach wie vor die Täter schützen, nicht die Opfer von Gewalttaten. Nicht einmal zivilrechtlich dürfen Opfer gegen ihre Täter vorgehen, wenn sie endlich genug Abstand zu den Untaten haben und sich damit auseinander setzen können. Denn dann sind die Taten verjährt. Und sobald die Opfer Anzeige erstatten und keine unwiderlegbaren Beweise haben, können die Täter sie wegen übler Nachrede belangen.
Eine Täterin ist nach wie vor am Leben und eine gesellschaftlich angesehene Frau. Aber ich denke, ich muß keine Namen nennen. Denn jedem denkenden Menschen ist klar, wer die Möglichkeit hatte, sich an einem Säugling zu vergehen. Wer dieses Kind an Männer mit der Neigung, ihr Machtstreben an Kindern auszuleben, weiter reichen konnte. Wer durch seinen Beruf bestens geeignet war, dieses Kind von vornherein unglaubwürdig zu machen. Denn ein Pfarrer mißbraucht keine Kinder. Erst recht nicht seine eigenen Kinder. Und ganz bestimmt nicht, wenn seine Frau, eine Ärztin, sich dafür verbürgt, daß dieses Kind schon immer Lügenmärchen erzählt hat, um die Familie zu zerstören.

Oder?

Meine Meinung ist, daß die wahren Gründe für den schrecklichen Tod meines Vaters ganz woanders zu suchen sind. Daß er selbst diese Verlogenheit nicht mehr aushielt. Daß er mit diesem "Fanal, das keiner versteht" für sich lieber ein Ende mit Schrecken herbeiführen wollte, als weiter endlos diesen Schrecken zu leben. Denn immerhin hatte ich zwei Jahre vorher bewiesen, daß man dem für sich ein Ende bereiten kann. Ich hatte den Kontakt zu meiner Familie abgebrochen und begonnen, ein Leben ohne Gewalt zu leben.
Und ich spielte mit dem Gedanken, ihn anzeigen zu wollen. Ich vermute, daß er sich dem entziehen und die Welt, mich, seine Frau oder wen auch immer mit seinem Suizid bestrafen wollte. Denn es war typisch für ihn, anderen Menschen die Verantwortung für sein eigenes Verhalten zuzuschustern: "Sieh nur, WIE schlecht es mir geht, weil Du so bist, wie Du bist!"

Der Suizid meines Vaters war ein Versuch, den Konsequenzen seines Handelns zu entgehen. Er hat damit vielen unbeteiligten Menschen schweres Leid zugefügt, indem er ihnen diesen Anblick aufzwang. Menschen, die nichts dafür konnten, daß er in seinem geheuchelten Leben mit der ungeliebten Frau nicht glücklich war und daß er befürchten mußte, sich vor Gericht für die Gewalttaten an mir verantworten zu müssen. Aber wahrscheinlich war das für ihn selbst der einzige noch gangbare Weg.